Daniela Ewen - Autorin - Schreibservice "Wortspiel"

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Eine WAUnachtsgeschichte

 


Die Heilige Nacht 
- Holly-

Ben atmete unruhig und zuckte im Schlaf. Er fühlte sich nicht besonders gut. Als er aufwachte, saß Holly plötzlich neben ihm, und es war sonderbar hell in seinem Zimmer, wobei das Licht von dem kleinen Hundemädchen auszugehen schien. Verwirrt setzte er sich in seinem Bett auf. „Hallo Ben, wie geht es dir?“, ertönte eine zarte Stimme, wie die eines kleinen Mädchens. Ben glaubte, sich verhört zu haben. Hatte soeben der Hund zu ihm gesprochen? Welche Pilze hatten die ihm auf die Pizza getan? „Ja, du hast richtig gehört“, bestätigte Holly seine unausgesprochene Frage. Er lauschte verwundert. Ihre Stimme schien er nicht im Raum, sondern in seinem Kopf wahrzunehmen. „Ich kann sprechen. Und ich kann noch viel mehr, das wirst du bald schon merken. Aber ich kann es nur an diesem einzigen Weihnachtsfest. Und darum ist es ganz wichtig, was in diesen drei heiligen Nächten passiert. Verstehst du das?“
Ben war so verwirrt, dass er gleichzeitig nickte und den Kopf schüttelte. Er bekam keinen Ton heraus und starrte die kleine Mischlingshündin ungläubig an. „Das macht nichts“, meinte Holly und schien leise zu lachen. „Du wirst bald verstehen. Zuerst einmal möchte ich dir etwas zeigen.“ Holly stellte sich auf und schüttelte sich. Goldene Funken schienen aus ihrem Fell zu steigen und Ben in ihrem Glanz einzuhüllen. Dieser wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte für einen Moment lang das Gefühl, die Besinnung zu verlieren. Dieser Zustand dauerte vielleicht drei Sekunden, dann sah er wieder klar. Oder? Nein. Etwas hatte sich verändert. Seine Welt sah anders aus. Er sah sie aus einem anderen Blickwinkel, von ganz tief unten vom Boden aus. Und er sah sie in anderen Farben. Seine Welt war plötzlich ohne jeden Rotanteil, sondern viel mehr in schwarz-weiß-blau-grün. Was war hier passiert?
Ehe Ben in Panik geraten konnte, beruhigte ihn Holly. „Hab keine Angst, es ist nichts schlimmes geschehen. Wir haben nur einmal kurz die Rollen getauscht. Ich möchte dir zeigen, wie dieser Tag für mich war und wie er sich angefühlt hat.“ „Was soll das?“, fuhr Ben den kleinen Hund an, doch dieser hob eine fluffige Vorderpfote und gebot ihm zu schweigen. „Sei still. Sieh dir an, was ich dir zu zeigen habe. Und fühle.“ In Bens Kopf war es, als würde Holly einen Film starten. Aber keinen gewöhnlichen Kinofilm, nein; einen 3-D-Film mit umwerfendem Ton, unglaublichen Gerüchen, viel Bewegung und einer Gefühlspalette, die für Ben unvorstellbar war.
Er sah sich in der Perspektive des kleinen Hundes freudig aus dem Tierheim spazieren. Alles war schön, die Sonne trotz des Winters warm auf seinem Fell, er hörte die Vögel  pfeifen, den Wind durch die wenigen verbliebenen Blätter an den Bäumen wispern. Ja, er hörte sogar den Rottweiler drei Straßen weiter in seinem Garten vorbeigehende Passanten verbellen. Er fühlte die kalten Verbundsteine unter seinen Pfoten und roch... einfach alles. Es hätte sowohl Bens Vorstellungskraft als auch seinen Wortschatz gesprengt, hätte er alle auf ihn einprasselnden Gerüche beschreiben müssen. Eine freudige Erregung hatte von ihm Besitz ergriffen, und er fühlte, wie der kleine Hund an der Leine zog, um schnell vorwärts zu kommen. Dann marschierte er die Treppe zum Gerichtsgebäude hoch und wartete geduldig, bis die Tür für ihn geöffnet wurde.
Die lauwarme, etwas muffige und abgestandene Luft des Gerichtsflurs hüllte ihn augenblicklich ein, doch Holly beachtete das nicht. Ben konnte eine heftige Neugier spüren, als er auf den Menschen zulief, den er als sich selbst erkannte. Eine seltsame Perspektive, sich selbst zu betrachten. Hatte er wirklich so große Füße?   Aber viel eigenartiger war der Geruch von Kälte und Ablehnung, der von ihm ausging. Konnte man das eigentlich riechen? Anders konnte Ben jedoch das Gefühl – den Geruch – den Eindruck - nicht beschreiben. Es fühlte sich etwas wärmer an, als er sich mit Clarissa sprechen hörte, aber nur ein wenig.   Eine leichte Anwandlung von Enttäuschung überkam ihn, als der neue Mensch ihn nicht beachtete, aber er ließ sich davon nicht entmutigen und machte ihn auf sich aufmerksam. Ben konnte spüren, wie er sich auf die Hinterpfoten stemmte und mit den kleinen Vorderpfötchen an der Jeans kratzte. Dabei rief er dem Menschen zu: „Hey, hier bin ich. Siehst du mich nicht?“
Als Bens Hand zu ihm herabkam, um ihn unbeholfen zu streicheln, dachte er: „Na also, geht doch!“ und freute sich. Schnell war Hollys Welt wieder in Ordnung, und wieder übernahm eine unbändige Neugier die Oberhand, als es nun zurück auf die Straße und zur Tierhandlung ging. Während Holly mit den beiden Menschen lief, lauschte sie Clarissas Stimme und auch der neuen, unbekannten Stimme, die trotz der Unnahbarkeit, die sie ausstrahlte, eigentlich sehr sympathisch war. Als sie ein bekanntes Wort von dieser Stimme hörte, reagierte sie, identifizierte es als den Befehl „Komm“ und gehorchte. Als sie dafür gelobt wurde, war Holly stolz. Sie wurde zwar nicht so überschwänglich gelobt, wie sie es von Clarissa gewohnt war, aber immerhin. Es klang sogar ein klein wenig Wärme durch, was sich ausgesprochen gut anfühlte. Als sich die Tür der Zoohandlung öffnete, wurde Ben abermals von Gerüchen und Eindrücken erschlagen. Sofort meldete sich der Hunger in ihm, als er nur einige wenige Gerüche in seinem Kopf zuordnete und die passenden Bilder dazu vor seinen Augen auftauchten. Hühnchen, Kaninchen, Rind, Schwein, Ente... Das Paradies wartete in diesen Regalen. Genießerisch hielt Holly die Nase in die Luft.
Aufmerksam verfolgte sie, welche Tüten und Gegenstände ihre Menschen aus dem Regal nahmen und freute sich, dass einige der Tüten dabei waren, die  am besten dufteten. Und das Spielzeug hätte sie am liebsten gleich ausprobiert. Aber anscheinend musste sie sich noch gedulden, denn alles verschwand erst einmal in einer großen, weißen Plastiktüte, die für Holly unangenehm künstlich roch. Wieder draußen an der frischen Luft angekommen, lief Holly nun einen Weg, der ihr bislang unbekannt war. Umso sorgfältiger speicherte sie all die neuen Gerüche und Bilder in ihrem kleinen Hundegedächtnis ab. Es dauerte nicht lange, und sie betraten ein Haus, das für Holly ebenfalls neu war. Nochmals konnte Ben eine unbändige Neugier und Lebensfreude spüren, die Holly ausstrahlte, wenn ihr etwas unbekanntes begegnete. Sie brannte förmlich darauf, zu entdecken und zu lernen. Sie hatte sogar einen eigenen Gesichtsausdruck, den sie nur aufsetzte, wenn sie aufmerksam etwas neues studierte und Eindrücke sammelte. Hätte man ihn danach gefragt, hätte Ben es „Entdeckergesicht“ genannt. Komisch, dass ihm das nicht aufgefallen war? Aber er erinnerte sich daran, dass er das Hundemädchen nicht sonderlich beachtet hatte, sondern entweder mit Clarissa gesprochen oder seinen eigenen mürrischen Gedanken nachgehangen hatte.
Als Clarissa sich verabschiedete, durchflutete eine kleine Welle der Traurigkeit und Unsicherheit das Hundemädchen. Sie mochte Clarissa sehr und wollte nicht, dass sie ging und sie mit diesem neuen Menschen ganz alleine ließ. Zusammen mit den beiden hatte sie sich wohl gefühlt, aber alleine mit Ben war ihr ein wenig unheimlich. Holly war die Kälte nicht gewohnt, die dieser Mensch ihr gegenüber ausstrahlte.   Zunächst jedoch siegte wieder einmal die Neugier über das Unbehagen. Ben sah seine eigene Wohnung aus der Hundeperspektive, als Holly diese erkundete. Und nun spürte er selbst das dringende Bedürfnis, das die kleine Hündin beim Anblick des Bettvorlegers überkommen hatte, und die Erleichterung, dem Bedürfnis nachzugeben. „Warum habe ich auch grüne Bettvorleger?“, fragte Ben sich unwillkürlich. Und schon sah er sich selbst im Zimmer stehen und hörte sich losbrüllen.
Der Schrecken, der die kleine Hündin durchfuhr, war unbeschreiblich. Sie ahnte ja nicht, dass sie etwas Falsches getan hatte, sondern war nur ihren natürlichen Instinkten gefolgt. Und nun stand dieser riesige Mensch genau vor ihr und schrie sie so laut an, dass es in ihren kleinen Ohren widerhallte. Ben wusste zwar, dass Hunde ein sehr feines Gehör haben, aber was seine laute und kräftige Stimme mit Holly soeben anstellte, war schon sehr erschreckend. Kein Wunder, dass der kleine Hund nur noch an Flucht dachte! In seinem ganzen Leben hatte Ben noch niemals eine solche Angst in sich gefühlt, nicht einmal als Kind. Ihm war kalt und er zitterte, seine Ohren dröhnten und sein Herz schlug so heftig, als wolle es ihm aus der Brust springen. Hätte er sich nicht schon erleichtert gehabt, wäre es sicherlich jetzt passiert.
Und dann nahte sich die große Menschenhand und schlug zu. Ben hatte zwar nicht allzu fest geschlagen, aber in Verbindung mit dem Schrecken und der Angst potenzierte sich der Schmerz. Der kleine Hund weinte laut auf. Er stand förmlich unter Schock und floh außer sich vor Angst unter das Bett. Noch niemals war er so behandelt worden. Nie zuvor hatte ein Mensch ihm absichtlich wehgetan. Mal auf die Pfote getreten, ja, wenn Holly im Weg stand, das kannte sie und sie wusste, dass es nicht absichtlich passierte. Sie wurde dann besonders herzlich geknuddelt, und manchmal gab es sogar ein Leckerli zum Trost. Aber das hier war etwas  ganz anderes und gefährliches. Ganz klein duckte sie sich in die Dunkelheit und hoffte, dass der große Mensch ihr nicht hierher folgen konnte. Zu Hollys großer Erleichterung war dies nicht der Fall. Sie beschloss, erst einmal eine Weile hier in Sicherheit zu bleiben und sich zu beruhigen. Dabei wartete sie ab, ob noch einmal Gefahr drohte. Doch der böse Mensch war weg. Sie hörte ihn in einem anderen Zimmer. Anscheinend kam er auch zur Ruhe.
Es dauerte lange, sehr lange nach Hollys Zeitgefühl, bis sie sich unter dem Bett hervortraute. Sie hatte großen Hunger, und der trieb sie schließlich dazu, ihren Menschen suchen zu gehen. Leise und mit schlechtem Gewissen schlich sie durch die Wohnung und suchte den Menschen, dem sie anvertraut war. Wie sehr wünschte sie sich Clarissa zurück. Aber wie es aussah, musste sie da alleine durch. Vorsichtig suchte sie die Nähe des Menschen und legte sich ganz still zu ihm, damit er nicht wieder anfing zu schreien. Doch es geschah gar nichts. Für den Menschen schien sie gar nicht da zu sein. Einerseits war dies gut für Holly, andererseits war sie es nicht gewohnt, nicht beachtet zu werden und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Für sie war es ganz wichtig, in der Nähe ihres Menschen zu sein.
Dieser hatte mittlerweile Futter auf dem Tisch stehen und ließ es sich schmecken. Ben hätte niemals gedacht, dass eine Pizza für einen kleinen Hund noch verführerischer riechen konnte als ohnehin schon für einen Menschen. Synchron mit Holly lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er spürte den nagenden Hunger, der das Tier zu quälen begann, aber auch gleichzeitig die Angst davor, durch Betteln auf sich aufmerksam zu machen und wieder Ärger oder Schmerzen zu riskieren.
Er war sehr erleichtert, dass er irgendwann selbst auf die Idee gekommen war, Holly zu füttern. In dem Maß, in dem der Hunger verschwand, wuchs wieder das Vertrauen des kleinen Hundes zu diesem noch fremden Menschen. Er hatte sie gefüttert, also war er jetzt nicht böse auf sie. Daher unternahm sie irgendwann einen kleinen Annäherungsversuch und stellte sich hoffnungsvoll an der Sofakante auf. Doch sie wurde unwirsch wieder auf den Teppich zurück gestupst. Ben konnte die Enttäuschung und Traurigkeit deutlich fühlen, die diese Zurückweisung in dem Tier auslöste. Er spürte die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit so sehr, dass es beinahe wehtat.
Noch stärker wurde diese Empfindung jedoch, als Holly sich zum Schlafen in ihre Wolldecke eingrub. Sie wurde von einem großen Heimweh gepackt, der Sehnsucht nach Nähe und Sicherheit und - nach Liebe. Das kleine Hundeherz quoll über von diesen Gefühlen und weinte. Überwältigt von dieser Erfahrung fühlte Ben zum ersten Mal seit langer Zeit wieder etwas wie Mitleid.