Momente zwischen Himmel und Erde
Leises Flüstern
Stumme Tränen liefen Lorena über die Wangen, und sie sah kaum, wohin ihre Füße sie trugen. Der Regen prasselte in Strömen vom Himmel, sie spürte ihn schon lange nicht mehr. Ihr schwarzer Hosenanzug klebte an ihr, genau wie ihre langen blonden Haare, die ihr wirr und tropfnass ins Gesicht fielen.
Wie blind lief sie durch die Straßen ihrer Stadt, wie taub war sie für die vorbeirasenden Autos, für die typische, alltägliche Lärmkulisse. Ja, taub, wie betäubt vor Kummer und Schmerz. Sie schmeckte nicht einmal das Salz der Tränen auf ihren Lippen.
Warum? Das war alles, was sie denken konnte. Warum er? Warum so früh?
Ein leises Schluchzen stieg in ihr hoch, als sie weiter vorwärts stolperte. Nichts um sie herum nahm Lorena wirklich wahr, nicht einen der unzähligen Passanten, die an ihr vorbei eilten und deren meist verstohlene oder auch unverhohlen offene Blicke sie neugierig musterten.
Alles, was sie vor Augen hatte, war sein Bild. Simon, 38 Jahre jung, groß, blond, ein jungenhaftes Grinsen im Gesicht. Und dann ein weiteres Bild. Eine weiße Rollbahre, blitzendes Blaulicht, Martinshorn, Blut. Simons athletischer Körper zerbrochen, zerstört, seine Augen weit offen, blicklos. Die Wärme seines Körpers ausgekühlt, für immer verloren. Sein weites, großes, liebendes Herz – für immer still.
Der LKW-Fahrer hatte telefoniert, war nur für einen Moment abgelenkt gewesen. Einen Moment zu lange.
Nun hatte sie den Stadtpark erreicht. Wie von selbst trugen ihre Füße Lorena zu der Bank unter der großen Trauerweide, unter der Simon und sie so viele schöne und liebevolle Momente verbracht hatten, tagsüber den unzähligen Menschen zuschauend, über spielende Kinder und Hunde lachend, nachts gemeinsam den Sternenhimmel betrachtend und Träume spinnend.
Ihre Hand umfasste den Anhänger ihrer Halskette; ein silberner Engel, Simons Geschenk zu ihrem 1. Jahrestag. Es sei ein Schutzengel, hatte er ihr gesagt, der sie nun für immer begleiten und sie vor allem Bösen beschützen würde. Sie hatte gelacht, doch Simon war es ernst gewesen. Er hatte fest an die Macht der Engel geglaubt.
Hysterisch lachte Lorena auf und riss mit aller Kraft die Kette von ihrem Hals. Voller Hass und unbändiger Wut schleuderte sie sie von sich. Wo war er denn gewesen, der schützende Engel? Warum hatte er sich nicht vor Simon geworfen, hatte nicht verhindert, dass der liebenswerteste Mensch, den sie jemals kannte, von Tonnen Stahl und Eisen zerquetscht wurde?
Niemals wieder würde sie an Engel glauben.
Die Beerdigung heute war so furchtbar endgültig gewesen. Lorena hatte es kaum über sich gebracht, Erde auf den Sarg zu werfen, Simon damit zuzudecken, ihn alleine zu lassen in Dunkelheit und Kälte. Am liebsten hätte sie sich mit in das Grab geworfen, sich mit ihm begraben lassen, damit sie für immer zusammen sein konnten, wie sie es sich so sehr gewünscht hatten.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Lorena hatte alles Gefühl für die Zeit vergessen. Mühsam erhob sie sich von der Bank. Nass bis auf die Haut, wie sie war, zitterte sie vor Kälte, doch es war ihr gleich. Sie sah sich um, versuchte sich zu orientieren und an den Weg nach Hause zu erinnern.
Nach Hause? Ihr Zuhause war Simon gewesen. Bei ihm hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt. Niemals hätte er zugelassen, dass ihr etwas passierte, stets hatte er seine schützenden Arme um sie gelegt, sie mit seiner Wärme getröstet, mit all seiner Kraft gehalten, ihr liebevolle Worte ins Ohr geflüstert, ganz leise.
Der Gedanke, die Nacht in einer kalten, leeren Wohnung zu verbringen, ohne Simon, ohne seine Seele, seine Stimme, seine beruhigende Gegenwart, war Lorena unerträglich.
Wieder traten Tränen in ihre Augen und verschleierten ihren Blick. Sie bemerkte kaum, wie sie aus dem Park heraustrat und die Straße erreichte. Es waren keine Passanten mehr unterwegs. Jeder hatte sich so schnell wie möglich in seine warme, trockene Wohnung geflüchtet. Nur Autofahrer waren nach wie vor auf den Straßen. Die Lichter der Autos spiegelten sich auf dem nassen Asphalt.
Mit kalten, tauben Fingern drückte Lorena den Schalter der Fußgängerampel. Automatisch wartete sie den Wechsel von rot auf grün ab. Vor ihr raste der Strom der Fahrzeuge vorbei, keine 20 cm von ihren Füßen entfernt. Endlich sprang die Ampel um. Mechanisch setzte Lorena einen Fuß auf die Fahrbahn.
Plötzlich war ihr, als legten sich Simons starke Arme um sie, für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich geborgen, wie sie es so oft gewesen war. Im gleichen Augenblick hörte sie ein leises Flüstern an ihrem Ohr. „Pass auf, der fährt durch!“ Erschrocken sprang Lorena zurück, und da passierte es auch schon: ein Autofahrer hatte das Rotlicht übersehen und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit eine Handbreit entfernt an ihr vorbei.
Lorenas Herz klopfte bis zum Hals, es schien aus ihr herausspringen zu wollen. Fassungslos starrte sie dem Auto hinterher. Dann sah sie sich um, schaute in alle Richtungen. Simon! Er war da gewesen! Oder war es jemand anderes gewesen, ein Fußgänger, der sie gewarnt hatte? Doch wie angestrengt sie auch schaute, es war weit und breit keine Menschenseele in ihrer Nähe. Wessen Stimme hatte sie gehört? Ganz deutlich war es gewesen, wenn auch nur ein leises Flüstern.
Ihre Tränen waren versiegt, die Kälte in ihr wich gleichzeitig mit der Schockstarre. Eilig lief Lorena zurück in den Park, zu der Bank unter der Trauerweide. Sie musste einige Minuten suchen. Doch dann hatte sie ihn gefunden.
Wassertropfen glitzerten auf dem Silber, als sie den kleinen Engel tief in ihre Jackentasche steckte.