Daniela Ewen - Autorin - Schreibservice "Wortspiel"

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Osterfacetten


Auch diese außergewöhnliche Geschichtensammlung mit 130 Seiten erschien 2023 in limitierter Auflage im Buch Salon Walbach. Hier haben viele Autorinnen und Autoren aus dem Saar-Pfalz-Kreis sehr unterhaltsame Texte zum Thema Ostern und Frühlingsanfang verfasst. 

Ich durfte folgende Texte beitragen:

Die lange Reise der Glocken nach Rom

Es war einmal an einem Gründonnerstag, als sich die Glocken der kleinen Kirchengemeinde nach ihrem letzten Läuten während des Glorias der Abendmahlmesse auf die alljährliche lange Reise nach Rom machten. Jahr für Jahr legten sie den weiten und beschwerlichen Weg in die große italienische Metropole zurück, um sich im Vatikan den großen Segen des Papstes für die Osternacht zu holen. Denn die Osternacht, das war auch für die Glocken die wichtigste Nacht des ganzen Jahres. Es war eine ganz ansehnliche Gruppe, die sich da hoch in die Lüfte weit über die Wolken des Nachthimmels erhob.
Da war die große, dicke Glocke, die die tiefsten Töne von sich gab und den Namen Totenglocke trug, da sie mit ihrem Klang die Verstorbenen nach Hause führte. Dazu kamen die etwas kleineren Glockenzwillinge, die mit ihren Mitteltönen zum allgemeinen Geläut vor den Messen oder zum
Angelusgebet beitrugen, und schließlich die kleinste der Glocken aus dem Turm, die die hellsten Töne läutete und mit ihrem Schall nicht nur das gemeinsame Geläut vervollständigte, sondern auch die Gläubigen beim ersten Läuten ganz alleine zur Heiligen Messe rief. Aber das waren noch lange nicht alle! Die kleine Glocke neben der Sakristei flog ebenso mit, auch die Glöckchen des Glockenspiels, die in der Turmuhr die Zeit ansagten und kleine Melodien spielten. Und schließlich durften sich auch die kleinen Schellenkränze mit auf den Weg machen, die während der Messe mit ihrem fröhlichen Gebimmel die Wandlung anzeigten.
Je länger die Glocken unterwegs waren, desto ungeduldiger wurden gerade die kleinsten Glöckchen.
„Sind wir bald da?“, fragten sie in regelmäßigen Abständen, sodass sich eine der mittleren Turmglocken schließlich erbarmte und den Kleinen et-was die Langeweile vertrieb. „Wisst ihr denn eigentlich, warum zu Ostern der Hase die Eier bringt?“, fragte sie die Kleinen. „Neeeeinnn, warum denn?“, klingelte es vielstimmig zurück. Als die kleinen Glöckchen sie gespannt ansahen, begann die Turmglocke eine Geschichte zu erzählen.
Vor langer Zeit war nicht der Hase dazu ausersehen worden, die Eier zu bringen, sondern das Huhn Friederike. Das Osterhuhn hatte vor dem großen Fest eine Menge zu tun. Es musste für alle Kinder genügend Eier legen, diese schön bunt bemalen und dann auch noch in den Gärten verstecken. Alleine das Eierlegen und Bemalen war schon sehr anstrengend für das Osterhuhn. Als es sich dann in der Nacht vor Ostersonntag auf seine kurzen Beinchen machte, um allen Kindern die Eier zu bringen, wurde es immer müder und müder und die Beine schwerer und schwerer. Er-schöpft setzte es sich schließlich auf eine Wiese und legte traurig das Köpfchen zwischen die Flügel. Es hatte noch nicht einmal die Hälfte der Eier ausgeliefert und war schon am Ende seiner Kräfte.
„Wie soll ich das nur schaffen?“, fragte es sich verzweifelt und begann zu weinen. Da bemerkte es plötzlich einen Schatten neben sich und erschrak.
„Hey, hab keine Angst, ich bin es nur“, erklang eine Stimme in der Nacht.
Friederike erkannte den kleinen braunen Hasen Freddy, der sie in den letzten Tagen oft besucht und beim Eierbemalen Gesellschaft geleistet hatte.
„Warum weinst du denn?“, fragte Freddy mitleidig.
„Ach, weißt du, ich werde es niemals schaffen, die ganzen Ostereier zu verteilen“, erklärte das Osterhuhn und war ganz niedergeschlagen. „Meine Beine sind schon ganz müde. Ich schaffe den Weg einfach nicht mehr.“
Freddy überlegte. „Hm. Ich bin noch gar nicht müde, und ich kann ganz schnell weite Strecken laufen und hüpfen. Wie wäre es, wenn ich den Rest der Tour übernehme? Dann kannst du dich in der Zwischenzeit hier ausruhen.“
„Das würdest du für mich tun?“, fragte das Osterhuhn und wischte sich die letzten Tränchen aus dem Gesicht.
„Aber klar doch!“, lachte Freddy.
„Nichts leichter als das!“ Mit diesen Worten schnappte sich der Hase die Eier und hoppelte los. Als der Morgen graute, hatte er die letzten Eier in das letzte Osternest gelegt. Und da die Sonne schon die ersten Lichtstrahlen über die Wiesen und Felder schickte, war er doch von einigen Menschen gesehen worden. So verbreitete sich die Nachricht, dass der Hase zu Ostern die Eier bringt, wie ein Lauffeuer. Freddy und Friederike beschlossen übrigens, zukünftig als Team zu arbeiten. So legte vor dem nächsten Osterfest das Huhn die Eier, diese wurden von Freddy und Friederike gemeinsam bunt bemalt und Freddy, der sich nun Osterhase nennen durfte, brachte sie in der Osternacht zu den Kindern. Und so ist es bis heute geblieben.
„Oooh, das war aber eine schöne Geschichte“, freuten sich die kleinen Glöckchen. Über all dem gespannten Zuhören hatten sie gar nicht bemerkt, dass am Horizont schon die große Stadt Rom zu erkennen war. So setzte die Reisegruppe vor dem Petersdom zur Landung an. Der große Petersplatz war angefüllt mit Glocken, Glöckchen und Schellen aus aller Welt, die alle auf den Segen des Papstes warteten und in der Zwischenzeit von vielen eifrigen Helfern blank und golden poliert wurden.
„Passt auf, dass ihr euch nicht verlauft! Schön zusammen bleiben“, mahnte die tiefe Glocke die übrigen. Das war ein Geklingel und Geläute, sie lernten viele neue Glocken und Glöckchen kennen und es gab so viel zu sehen und zu bestaunen, dass es für alle ein Abenteuer war. Als der Papst schließlich erschien und den großen Segen gab, wurden alle ganz still und feierlich und strahlten in ihrem neuen Glanz.
Am späten Karfreitag war es endlich soweit, dass sie sich wieder auf die Heimreise machen konnten. So flog die Reisegruppe die ganze Nacht hindurch, während die großen Glocken die kleinen Glöckchen, die müde waren, auf ihrem Rücken trugen. Als die Sonne aufging, wurden die Kleinen langsam wieder wach und munter. Vergnügt flogen sie zusammen über weite Wiesen und Wälder.
Plötzlich bemerkten sie, dass sie nicht mehr alleine in der Luft waren. Ein großer Bienenschwarm hatte sich ihnen angeschlossen und flog summend neben ihnen her.
„Hallo, wer seid ihr denn?“, fragte ein kleiner Schellenkranz neugierig.
„Wir sind die Honigbienen“, entgegnete der Schwarm.
„Und was macht ihr hier?“, fragte ein Glöckchen aus dem Glockenspiel.
„Wir fliegen zu unserem Bienenstock nach Hause, um neues Wachs zu produzieren. Denn aus dem Wachs, das wir bereits gemacht haben, wurde für das Osterfest etwas ganz Wichtiges hergestellt“, erklärte eine der Bienen stolz.
„Was denn?“, wollten die Glocken nun alle wissen.
„Die Osterkerze“, antwortete der ganze Schwarm wie aus einem Mund.
„Und was macht diese Kerze so besonders?“, fragten die Glocken.
„Nun, sie wird heute in der Osternacht während der feierlichen Messe gesegnet und bringt als erste Kerze von allen Licht in die Dunkelheit. Das Licht dieser Kerze wird an alle anderen Kerzen verteilt und symbolisiert die Auferstehung des Heilands. Es gibt sogar ein besonderes Lied, das nur in dieser Nacht zur Segnung der Osterkerze gesungen wird. Es nennt sich Osterlob oder Exsultet.“
Die großen und erfahrenen Glocken nickten weise zu den Erklärungen der Bienen. Sie wussten natürlich um die Geheimnisse der Osternacht.
„Oh, das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes“, staunten die kleinen Glöckchen.
„Da könnt ihr zu Recht stolz darauf sein.“
Über einer großen Wiese verabschiedeten sich die Bienen. „Wir sind zu Hause und wünschen euch noch eine gute Reise!“
„Auf Wiedersehen“, riefen die Glocken und flogen noch eine Weile recht tief über die Wiese hinweg.
„Schaut mal da unten, die großen, gelben Blumen“, rief eine der Turmglocken.
„Die heißen so wie wir heute Nacht! Osterglocken!“ Mit diesen Worten gossen die Glocken ein wenig von ihrem Segen über die Blumen und diese leuchteten noch goldener in der Sonne als zuvor.
„Wir sind auch gleich zu Hause“, rief die Glocke, die ganz vorne an der Spitze flog. „Ich kann schon unseren Kirchturm erkennen.“
Die kleinen Glocken begannen vor Freude zu jubeln, wurden aber von den großen zur Ruhe ermahnt. „Still! Niemand darf uns hören! Erst in der Osternacht dürfen wir wieder laut sein.“
„Dann aber richtig!“, rief ein kleiner Schellenkranz frech.
„Ganz recht“, lächelte die tiefe Glocke.
„Zur Auferstehung dürfen wir mit aller Kraft läuten, die wir haben. Jetzt geht aber ruhig jeder an seinen Platz!“
Ganz leise verteilten sich die Glocken, Glöckchen und Schellen wieder an ihre Plätze in der Kirche. Müde von all den Eindrücken, Erlebnissen und den Neuigkeiten ihrer langen Reise schliefen sie alle noch ein wenig. Und als in der Osternachtsmesse das Gloria erklang, waren alle Glocken wieder putzmunter und verkündeten mit feierlichem Klang und goldenem Glanz die Auferstehung des Herrn.

Schneemann Balduin und der Sinn des Lebens

Auf einer großen Wiese stand einmal ein Schneemann namens Balduin. Er stand schon sehr lange auf der verschneiten Wiese, ja, es schien schon eine Ewigkeit her, seit er von Kindern gebaut worden war. Einst war er stolz und prächtig anzuschauen, mit einem schönen bunten Schal um den Hals, einer dicken Mohrrübe als Nase, schwarzen Kohlenaugen und einem großen lachenden Mund, der ebenfalls aus kleinen Kohlestückchen geformt worden war. Doch nun hatte die Zeit ihre Spuren an ihm hinterlassen. Die Koh-len waren verrutscht, die Äste, die als Arme gedient hatten, herabgefallen und sein Körper war schon lange nicht mehr so definiert, sondern bereits von der Sonne gezeichnet, die mit Beginn des Frühlings immer mehr an Kraft gewann.
Balduin ahnte, dass seine Zeit zu Ende ging. Denn wieder einmal ging die Sonne über ihm auf und ließ die Schneeflecken auf seiner Wiese schmelzen. Das Gras zu seinen Füßen wurde immer grüner und vereinzelt konnte er sehen, wie die ersten Schneeglöckchen und Krokusse ihre Köpfe zum Himmel streckten. Auf dem Baum, der direkt neben Balduin stand, saß ein kleiner, bunter Vogel, der vergnügt ein Liedchen pfiff. Balduin lauschte dem Lied des munteren Tierchens und sprach ihn an. „Wer bist du denn? Und warum singst du so fröhlich?“
„Ich heiße Mona und bin eine Blaumeise. Und warum sollte ich nicht fröhlich sein? Die Sonne scheint, der Frühling kommt endlich wieder und das Leben beginnt“, entgegnete der Vogel und plusterte sein Gefieder etwas auf.
„Was heißt das, das Leben beginnt?“, fragte Balduin verwirrt. „Gab es denn vorher kein Leben? Ich lebe doch auch. Oder nicht?“
Mona sah den Schneemann nachdenklich an. „Du kannst sprechen, also lebst du schon irgendwie. Aber du kannst nicht laufen, du kannst nicht fliegen und du kannst nichts tun. All das gehört zum Leben. Siehst du? Ich kann mich schütteln und fliegen und singen, ich mache die Menschen fröhlich, wenn sie mich hören. Ich bin lebendig. Und siehst du, wie die Tiere langsam alle wieder nach draußen kommen, wenn die Sonne scheint? Da drüben hoppelt Hansi, der Feldhase. Den habe ich schon so lange nicht mehr gesehen. Im Winter hat er sich versteckt, um sich zu wärmen. Und da, siehst du die Bienen und Schmetterlinge, die durch die Luft fliegen? Sie freuen sich auf den Frühling. Nun können sie endlich wieder die Blumen bestäuben und die Bienen sammeln dabei ihre Pollen und machen daraus Honig. Sie sind lebendig und sorgen gleichzeitig für neues Leben. Das ist ihre Aufgabe. Im Winter war es viel zu kalt für sie. In der Winterzeit ist das Leben irgendwie … eingefroren“, erklärte Mona.
„So wie ich gefroren bin?“, fragte Balduin. „Lebe ich deshalb nicht richtig?“
„Kann schon sein“, meinte der kleine Vogel. „Du bist eben ein Wintergeschöpf.“
„Und ihr seid das nicht?“
„Nein“, antwortete Mona. „Wir sind die Geschöpfe der warmen Jahreszeiten. Jeder von uns sorgt auf seine Weise dafür, dass das Leben neu beginnt. Deshalb sind wir da, das ist der Sinn unseres Lebens. Aber nun muss ich weiter. Ich muss Würmer suchen. Da drüben gibt es bestimmt welche. Auf Wiedersehen“, zwitscherte die kleine Meise und flatterte davon.
Als er wieder alleine war, wurde Balduin ganz still und ein wenig traurig. Konnte es denn sein, dass nur das Leben der Sonnengeschöpfe einen Sinn hatte? War er denn völlig nutzlos, so wie er da auf der Wiese stand und in den warmen Sonnenstrahlen zu schmelzen begann? Das konnte doch nicht sein! Immerhin hatte er die Kinder, die ihn gebaut hatten, zum Lachen gebracht. Das war doch auch etwas wert. Aber sollte das wirklich alles gewesen sein? War ein Kinderlachen der einzige Sinn seines Lebens?
Die Sonne stieg am Horizont immer höher und gewann immer mehr an Kraft. Balduin fühlte, wie ihm das Schmelzwasser über den Körper lief. Ihm wurde immer flauer zumute und er konnte schon bald nicht mehr darüber nachdenken, was denn nun der Sinn seines Lebens sei, denn er spürte, wie dieses Leben unaufhaltsam zu zerfließen begann. Die ersten Kohlestückchen rutschten aus seinem Gesicht und fielen zu Boden. Auch die Mohrrübennase sackte immer tiefer und seine Füße standen bald in nassem Gras. Die Pfütze, die er bildete, wurde immer größer, und als die Sonne zu Mittag hoch am Himmel stand, war von Schneemann Balduin nicht mehr viel übrig. Er wurde zu einem kühlen Wasserrinnsal, das über die Wiese floss. Wie anders fühlte sich das an, als so reglos an einer Stelle zu stehen.
„Vielleicht lebe ich ja jetzt“, freute sich Balduin. „Jetzt bewege ich mich, und Mona meinte doch, das gehört zum lebendig sein dazu.“
Das Schmelzwasser floss hinüber zu dem Baum, auf dem die kleine Meise gesessen hatte. Doch was war das? Balduin spürte, wie ihn eine Kraft in den Boden hinein zog. Der Baum trank das Wasser mit seinen Wurzeln gierig auf, sodass Balduin teilweise von ihm aufgezehrt wurde. Dann hörte er eine tiefe Stimme brummen: „Oooohhh, das tut gut. Vielen Dank, das habe ich jetzt gebraucht. Ich bin schon so lange ohne frisches Wasser, meine Zweige sind noch ganz trocken und ohne Kraft. Dabei brauche ich doch Wasser, um frisches Grün zu bilden. Ich muss austreiben und Blätter und Blüten hervorbringen, damit ich später im Herbst ein kräftiger Apfelbaum sein kann. Das ist schließlich meine Aufgabe. Danke dir, dass du mich erfrischt hast.“
Balduin freute sich. Jetzt, da er kein Schneemann mehr war, war er anscheinend mehr von Nutzen. Mittlerweile war er zu einer einzigen großen Pfütze zerflossen. Er spürte, wie die Erde ihn aufsog und er all die kleinen Schneeglöckchen und Krokusse tränkte, die dankbar ihre Köpfchen hoben und die Blüten zur Sonne streckten. War das denn der Sinn seines Lebens, von den Blumen und Bäumen aufgezehrt zu werden und ihnen so bei ihrer Aufgabe behilflich zu sein? Apropos Sonne. Da war doch etwas. Balduin schien auch von ihr förmlich aufgesaugt zu werden. Denn nicht all sein Schmelzwasser gelangte in die Erde. Ein Teil davon wurde von der Wärme und der Kraft der Sonne angezogen und erhob sich hoch in die Luft, um schließlich am Himmel eine Wolke zu bilden. Balduin staunte, welche Vielzahl an Gestalten er plötzlich annahm. Als Schneemann war er fest gewesen, als Schmelzwasser war er flüssig und nun als Wolke fühlte er sich ganz fluffig und luftig an. Eines wusste er gewiss: Das konnte sicherlich kein anderes Lebewesen! Irgendwie war es sehr lustig, als Wolke über den Himmel zu schweben, so leicht und schwerelos. Doch was war denn nun der Sinn dieses Lebens? Etwa, lustig und flauschig zu sein? Er fragte die Wolke, die neben ihm über den Himmel zog. „Hallo, ich bin Balduin. Das heißt, ich war es … Ach, es ist etwas kompliziert. Noch heute Morgen war ich Balduin, der Schneemann. Nun ist etwas Seltsames mit mir passiert. Ich wurde zu Wasser und die Blumen und Bäume haben mich getrunken und sich an mir gestärkt. Und der Rest von mir ist hier nach oben in den Himmel geflogen und sieht nun aus wie du. Ich finde es auch sehr schön hier oben, denn ich fühle mich viel lebendiger, als ich es als Schneemann war. Aber kannst du mir sagen, was der Sinn unseres Lebens ist?“
Die große Wolke neben ihm antwortete: „Lieber Balduin, diese Frage ist gleichzeitig sehr leicht und sehr schwer zu beantworten. Als flauschige, weiße Wolke ist es unsere Aufgabe, die Menschen froh zu machen, denn sie lächeln, wenn sie uns am Himmel sehen. Gleichzeitig spenden wir ihnen Schatten, wenn die Sonne zu heiß wird. Aber je mehr Wasser wir aus der Luft ziehen, desto dicker und schwärzer werden wir. Und irgendwann geben wir das Wasser wieder her. Das nennt sich Regen. Und dieser Regen netzt die Wiesen und Wälder und füllt die Flüsse und Bäche und sogar die Ozeane. Das Regenwasser sorgt dafür, dass alles grün und lebendig bleibt und die Tiere und Pflanzen zu trinken haben. Dabei verzehren wir Wolken uns, wenn wir als Wasser zur Erde fallen, aber wir werden als Wolke zurückkehren und werden wieder zu Regen. Das nennt sich der Kreislauf des Lebens.“
„Der Kreislauf des Lebens?“, wiederholte Balduin staunend. „Und ich bin da jetzt mittendrin?“ „Ja“, lächelte die große Wolke. „Und weißt du was? Wenn das Jahr vorüber gegangen ist, die Sonne an Kraft verliert und es wieder Winter wird, dann kann es sein, dass du nicht als Regen, sondern als Schnee zur Erde fällst. Und irgendwann bauen Kinder wieder einen Schneemann aus dir.“
„Das ist ja ganz unglaublich!“, staunte Balduin. „Danke!“, rief er, als die dicke Wolke weiterzog. Nun hatte Balduin viel Zeit, über alles nachzudenken, was er am heutigen Tage erlebt und gelernt hatte. Dabei fühlte er, wie er immer dicker und dicker wurde und immer mehr Wasser aus der Luft aufnahm, bis das eintraf, was die andere Wolke vorhergesagt hatte: Er löste sich auf und fiel als warmer Frühlingsregen zur Erde. Und als er da so in Millionen kleinen Wassertropfen zur Erde fiel, fühlte er sich glücklicher und lebendiger als je zuvor. Denn er hatte verstanden, dass die kleine Meise Mona Unrecht gehabt hatte. Er war nicht nur ein Wintergeschöpf ohne Sinn und Aufgabe auf der Welt. Ganz im Gegenteil: Der Sinn seines Lebens war es, das Leben selbst zu schenken! Denn ohne Wasser gab es kein Leben, das wusste Balduin nun. Und egal, in welcher Form er gerade existierte, es hatte immer einen Sinn, nämlich Leben und Freude zu schenken.
Als er in Form des Frühlingsregens seine einstige Wiese benetzte und fruchtbar machte, sah er den Hasen Hansi, der erfreut an seiner Mohrrübennase knabberte. Balduin lächelte. „Lass es dir schmecken, mein Freund. Nun bin ich wohl voll und ganz verzehrt.“ Aber das machte ihn nicht traurig, ganz im Gegenteil. Er wusste, er würde weiterleben, in welcher Form auch immer. Denn Balduin, der Schneemann, hatte den Sinn seines Lebens gefunden. Und er verstand, warum der Frühling die Jahreszeit des Lebens und der Hoff-nung genannt wurde.