Daniela Ewen - Autorin - Schreibservice "Wortspiel"

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100 Texte für den Frieden

 

100 Texte für den Frieden. Gedanken – Gedichte – Essays. · Taschenbuch. 16 x 24 cm. 208 Seiten. · ISBN 978-3-941095-94-6.
20,00 €

Diese einzigartige Sammlung von Texten gegen den Krieg in der Ukraine erschien im Frühjahr 2022 in der "Edition Schaumberg" und enthält 100 Texte von 96 Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland, darunter zahlreiche Prominente. Der Erlös wird vollständig an notleidende ukrainische Kinder gespendet.

Ich durfte folgenden Text veröffentlichen:


Die Tränen der Friedenstaube

 

Es war einmal in einer tiefschwarzen Nacht des Jahres 2022, als die schneeweiße Friedenstaube vor Kummer keinen Schlaf fand. Auf dem europäischen Kontinent war Krieg ausgebrochen. Die Menschen hatten noch immer nicht gelernt, dass der Krieg ein Spiel war, das nur gewonnen werden konnte, indem man es nicht spielte. Die Schreie, Gedanken und Gebete der Unschuldigen stiegen zum Himmel hinauf und gellten laut in den Ohren der Taube. Sie lauschte in die Dunkelheit.

Das erste, was sie hörte, waren die Gedanken eines Soldaten, der in einem Schützengraben lag. „Geht es meiner Familie gut? Ist sie in Sicherheit? Wie geht es meiner Frau? Werde ich meine Kinder jemals wiedersehen? Ich wünsche mir nichts mehr, als sie gesund aufwachsen zu sehen. Und doch bin ich hier, inmitten von Leid, Schmerz und Tod. So viele Kameraden sind schon gefallen. Die letzte Granate ging nur knapp an mir vorbei. Wird mich die nächste treffen? Ich habe Angst. Ich will noch nicht sterben.“ Als die Taube diesen Gedanken lauschte, quoll ihr Herz über vor Mitleid, und sie weinte bittere Tränen um alle Soldaten.
Als nächstes hörte sie die Gedanken einer jungen Mutter, die mit ihren Kindern im Luftschutzbunker saß. „Hoffentlich sind wir hier in Sicherheit. Über uns sind Flugzeuge, ich höre die Luftschutzsirenen. Bomben fallen. Meine Kinder schreien und zittern vor Angst. Ich tröste sie, so gut ich kann. Aber auch ich habe Angst. Werden wir diesen Wahnsinn überleben? Werde ich meinen Mann lebend wiedersehen? Was, wenn wir verletzt werden oder obdachlos? Was werden die feindlichen Soldaten mit uns machen? Werden sie mir  Gewalt antun? Ich darf nicht sterben. Ich muss leben, für meine Kinder. Warum passiert das alles nur?“ Die Taube war voll des Kummers, als sie diesen Gedanken lauschte, und sie weinte bittere Tränen um alle Frauen und Mütter.
Die nächsten Gedanken, die die Taube hörte, waren die eines kleinen Kindes. Es weinte laut und klammerte sich voller Angst an seine Mutter und die größere Schwester. „Was passiert hier? Warum knallt es so laut? Die Schreie und das Heulen der Sirenen machen mir Angst. Wo ist Papa? Warum ist er nicht bei uns? Wenn er da wäre, hätte ich sicher nicht so viel Angst. Warum ist es zu Hause nicht mehr sicher? Und warum blutet Mama am Kopf? Mama? Bleib doch wach! Mama?“ Als die Taube die Gedanken des kleinen Kindes hörte, wollte ihr Herz vor Kummer zerreißen, und sie weinte bittere Tränen um alle unschuldigen Kinder inmitten des unaussprechlichen Horrors des Krieges.
Auch die Schreie der gepeinigten Erde drangen zu der Taube hinauf. Schwarz verbrannt und blutgetränkt wartete sie darauf, dass jemand den roten Knopf drückte und ihrem Leid ein Ende setzte, indem sie sie endlich vernichtete. Vielleicht wäre es eine Erlösung für sie. Als die Taube die Schreie von Mutter Erde vernahm, weinte sie bittere Tränen um sie.
Als die Nacht zu Ende war und die Sonne am Firmament aufging, bemerkte die schneeweiße Friedenstaube, dass sich alle Tränen, die sie in dieser Nacht vergossen hatte, am Boden zu einem kleinen See gesammelt hatten. Und das letzte, was sie sah, als ihr trauriges Herz brach, war ein kleiner, bunter Regenbogen der Hoffnung, der aus den Tränen durch das Licht der Sonne zum Himmel emporstieg.