Daniela Ewen - Autorin - Schreibservice "Wortspiel"

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Rowenas Vermächtnis

1. Unverhoffte Begegnung

Der Vorhang fiel, und Applaus brandete auf. Im Musical-Theater „Neue Flora“ in Hamburg ging eine weitere Vorstellung von „Tanz der Vampire“ zu Ende, und Fiona wischte sich lächelnd den Schweiß von der Stirn. Sie liebte ihren Beruf. Für sie gab es nichts schöneres, als die Menschen mit ihrer Stimme zu verzaubern. Und wie es aussah, hatte sie dies auch am heutigen Abend wieder geschafft.

Der Vorhang hob sich, die Akteure traten an die Rampe und verbeugten sich nochmals, während der Beifall nicht nachließ. Die Zuschauer hatten sich erhoben und applaudierten unvermindert und begeistert. Zusammen mit Jonas, ihrem Musical-Partner, verbeugte sich Fiona, und gemeinsam ernteten sie stürmischen Beifall. Sie hatten aber auch heute eine besonders gute Vorstellung abgeliefert. Die Rolle der Sarah lag Fiona wie keine zweite, und Jonas war die optimale Besetzung für Alfred: jung, schüchtern und doch ein wenig spitzbübisch. Ein letztes Mal noch hob sich der Vorhang, bevor er endgültig fiel und die Zuschauer nach und nach das Theater verließen.

Fiona liebte diesen Moment der Erschöpfung und Erleichterung, wenn entgegen aller Befürchtungen wieder alles nach Plan verlaufen war und niemand so gepatzt hatte, dass man es merkte. Mit ihren Schauspiel-Kolleginnen machte sie sich auf den Weg zur Garderobe, um ihr Kostüm und vor allem das Make-up los zu werden, das sich, klebrig vom Schweiß, am Ende einer Vorstellung immer recht unangenehm anfühlte. Lachend und plaudernd eilten die jungen Leute durch die Gänge des Theaters, das sich im Handumdrehen in einen Bienenstock verwandelte. Wie schon vor jeder Vorstellung, so konnte man auch hinterher nur von einem organisierten Chaos sprechen. Den Unterschied machte nur das Fehlen des Lampenfiebers. Dafür wurde nun lebhaft der Verlauf der Aufführung diskutiert. Hier hatte ein Tanzschritt nicht gepasst und dort war ein Ton nicht getroffen oder der Text in „Eigenregie“ angepasst worden.

„Jeden Abend das gleiche Theater“, schmunzelte Fiona in sich hinein. Sie saß bereits in ihren bequemen Alltagsklamotten vor dem Spiegel und wischte sich mit Hilfe riesiger Mengen Creme und Wattepads die Schminke aus dem Gesicht. Eine Viertelstunde später fühlte sie sich endlich wieder wie ein Mensch und nicht mehr wie eine Untote. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke nach oben, warf sich die Tasche über die Schulter und rief noch zum Abschied: „Tschüss dann, bis morgen!“ über die Schulter. „Tschüss, Fiona“, kamen vereinzelte Echos zurück. Lächelnd schloss Fiona die Garderobentür hinter sich und verließ das Theater. Draußen war es schon dunkel. Es war November, und die Nacht war sternenklar. Der Mond stand rund und voll am Himmel, und Fiona konnte ihren Atem sehen, so kalt war es geworden. Auf dem Weg in ihr 2-Zimmer-Appartement in der nicht weit entfernt liegenden Holstenstraße grub sie die Hände tief in die Taschen und beschleunigte ihre Schritte, um warm zu bleiben. Gerade bog sie, in Gedanken versunken, um die Ecke, als sie schmerzhaft mit jemandem zusammenprallte.

„Au!“ riefen beide wie aus einem Mund und rieben sich parallel die Stirn. Als Fiona aufsah, wusste sie nicht, ob sie lachen oder wütend werden sollte, und ihrem Gegenüber schien es ähnlich zu gehen. „Sie haben aber einen harten Schädel“, schimpfte der junge Mann, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Ihrer ist auch nicht von Pappe“, gab Fiona zurück und bückte sich, um ihre Habseligkeiten vom Boden aufzuheben, die bei dem Zusammenprall aus ihrer Tasche gefallen waren. „Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bot der Mann Fiona nun schon ein wenig freundlicher an. „Danke, es geht schon. Tut es noch sehr weh?“, fragte Fiona und lächelte verlegen. „Wenn ich so in Gedanken bin, achte ich manchmal nicht auf meinen Weg“, meinte sie entschuldigend. „Ach was, halb so wild“, winkte der junge Mann ab. „Ich habe genau so wenig aufgepasst. Solche Dinge passieren halt.“

Einen Moment lang standen sich die beiden gegenüber und musterten sich. Fiona, mit ihren langen, kupferroten Haaren, ihrer schlanken Figur und ihren fünfundzwanzig Jahren war durchaus eine Frau, die Männer anzog. Trotzdem hatte sie bisher noch nicht den passenden Partner finden können. Ihr ungewöhnlicher Beruf hatte das seinige dazu getan. Er war nicht gerade beziehungsfreundlich. Viel Zeit hatte Fiona nie für einen Freund aufbringen können. Am Vormittag trainierte sie Tanz und Gesang, anschließend war Probe, und nachmittags und abends hatte sie Vorstellung.  So waren die wenigen Anläufe zu einer Beziehung, die sie bisher hatte, aus Zeitmangel gescheitert. Jetzt sah sie sich einem attraktiven Mann Anfang dreißig gegenüber. Er war mittelgroß, nicht viel größer als sie selbst, und hatte eine sportliche Figur. Seine Haare waren dunkelblond, und im Lichtschein der Straßenlaternen blitzten seine Augen hellblau. „Wie die wohl bei Tageslicht aussehen?“, fragte sich Fiona unwillkürlich, als sie sie betrachtete. „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, unterbrach der Mann ihre Betrachtung.

„Mein Name ist Simon Bender.“ „Fiona Martin“, stellte sich Fiona ebenfalls vor. Lächelnd gaben sich die beiden die Hand. „Bei einem Unfall ist es ja durchaus üblich, dass die Personalien ausgetauscht werden“, grinste Simon und rieb sich nochmals die Stirn. „Das wird eine schöne Beule werden.“ „Meine oder Ihre?“, fragte Fiona und lachte. Simon zögerte einen Augenblick, dann meinte er: „Darf ich Sie denn auf diesen Schrecken hin zu irgend etwas einladen? Wie wäre es mit etwas warmem zu trinken? Ich friere hier gleich fest!“ Zur Bekräftigung trat Simon von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Fiona überlegte einen Moment, dann dachte sie sich: „Warum eigentlich nicht? Er macht mir einen netten Eindruck, und nach dem heutigen erfolgreichen Abend habe ich mir einen schönen Abschluss verdient.“ „Das ist eine gute Idee“, stimmte sie schließlich zu. „Prima“, freute sich Simon. „Kommen Sie mit, ich kenne hier ein italienisches Café ganz in der Nähe, das noch geöffnet haben sollte. Da können wir uns aufwärmen und uns von unserer Kollision erholen.“

5. Der Freund des Bischofs

„Rowena, bitte wach auf!“ Ein unsanftes Rütteln riss die junge Frau aus dem Schlaf. Rowena schlug die Augen auf und saß blitzschnell aufrecht auf ihrer Liege. Vor ihr stand ihre Freundin Sabina, in der einen Hand eine Laterne mit  flackerndem Talglicht, die andere Hand noch auf ihren Schultern liegend. Ihre langen blonden Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, und sie war außer Atem, als sei sie eine lange Strecke gelaufen. „Um Himmels Willen, was ist geschehen?“, fragte Rowena noch etwas benommen. „Du musst mit mir kommen, Rowena. Leonardus Kreutzer, der Gast unseres Weihbischofs und sein engster Vertrauter, ist über Nacht plötzlich schwer erkrankt. Mein Herr, der Weihbischof Petrus Binsfeldius persönlich, schickt mich, Hilfe zu holen“, keuchte Sabina und rang nach Luft.

Rowena hatte sich schon von ihrer Liege erhoben und kleidete sich mit flinken Fingern an. „Warum ruft er ausgerechnet mich? Man sollte glauben, die hohen Herrschaften könnten sich einen Medicus leisten?“, fragte sie ihre Freundin Sabina erstaunt. „Ich habe den Medicus nicht erreichen können. Griselda, seine Köchin, meinte nur, er sei für einige Tage verreist, und schlug mir die Tür vor der Nase zu.“ „Gut. Was fehlt dem hohen Herrn denn?“, fragte Rowena, mit der Hand schon nach dem Regal greifend, auf dem sich in vielen Fläschchen, Dosen und Krügen die verschiedensten Mixturen und Salben befanden. „Er fiebert und hustet ganz stark, außerdem scheint er Schmerzen zu haben. Die ganze Nacht lang hat er noch kein Auge zu getan“, berichtete Sabina. „Gegen das Fieber nehme ich am besten den Saft aus Nelkenwurz und Akelei, dazu den Aufguss aus Thymian, Schlüsselblume, Malve und Spitzwegerich gegen den Husten“, murmelte Rowena leise und packte die ausgewählten Behältnisse in ihren Beutel. „Und die Mandragorapastillen gegen die Schmerzen und die Schlaflosigkeit.“

Noch einmal überflog sie den Inhalt ihres Regales und überprüfte ihren Beutel. „Das dürfte für den Anfang ausreichen. Führe mich zu dem Kranken. Ich will sehen, was ich ausrichten kann.“ „Danke, Rowena, ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen“, lächelte Sabina erleichtert und ging ihrer Freundin voraus. „Bedanke dich nicht zu früh“, meinte Rowena trocken. „Noch ist der hohe Besuch nicht wieder auf den Beinen.“ Gemeinsam durchschritten sie eilig die dunkle und kalte Nacht, bis sie die Residenz des Weihbischofs von Trier erreichten. Sabina meldete sie beim Wachposten an. „Hier sind Sabina, Kammerdienerin des Petrus Binsfeldius, und Rowena, die Heilerin. Mein Herr schickte mich, sie zu holen, da sein Gast erkrankt ist.“ „Tretet ein. Ihr werdet bereits ungeduldig zurück erwartet.“

Der Wachposten öffnete eilig das Tor und ließ die beiden Frauen ein. Im Laufschritt hasteten diese durch die langen, marmorverkleideten Gänge, über einige Treppen, bis sie im Gästetrakt angekommen waren. Viele Kerzen erhellten den Raum, in dem der Kranke lag. Bereits von draußen hörte man den gequälten Husten des Mannes. Sabina klopfte an die mit Schnitzereien verzierte Tür aus dunklem Eichenholz. „Tretet ein“, klang von drinnen eine befehlsgewohnte Stimme, der die beiden Frauen nun Folge leisteten.  „Hier bin ich wieder, Eminenz“, sagte Sabina und versank in einem demütigen Knicks vor ihrem Herrn. „Ich habe den Medicus leider nicht antreffen können, jedoch habe ich die Heilerin Rowena mitgebracht. Sie besitzt ein umfangreiches Wissen, die Wirkungen der Heilkräuter betreffend. Ich bin sicher, sie kann Eurem Gast die notwendige Linderung verschaffen.“

Auch Rowena deutete einen höflichen Knicks an. „Seid gegrüßt, Euer bischöfliche Gnaden“, sprach sie und neigte leicht den Kopf. Bischof Binsfeldius betrachtete sie misstrauisch. So gut es nur ging, nahm Rowena Haltung an. Ein wenig fiel sie in dieser edlen Umgebung schon aus dem Rahmen, musste sie sich unter der eindringlichen Musterung eingestehen, trug sie doch nur ein schlichtes, dunkelgrün gefärbtes Leinenkleid und ihren dunkelbraunen Wollumhang. Beide Farben jedoch brachten ihre prächtigen kupferroten Haare gut zur Geltung, die ihr in langen Locken den Rücken herab fielen. Ihre katzengleichen grünen Augen blickten selbstbewusst dem Bischof ins Gesicht.

„Nun, wenn uns keine andere Wahl bleibt, so soll denn dieses Weib ihr Glück versuchen“, brummte der Bischof schließlich. „Der Medicus wäre mir jedoch bedeutend lieber gewesen.“ „Ich erbitte Eure Verzeihung“, sagte Sabina entschuldigend, „doch mir wurde von seiner Bediensteten mitgeteilt, der Medicus befände sich zur Zeit auf Reisen. Mit seiner Rückkehr ist nicht vor Ende der Woche zu rechnen. So fiel mir Rowena Kramer ein, die schon unzählige Kranke hier in Trier geheilt hat. Ich dachte mir, Eminenz, ihre Hilfe sei besser als gar keine Hilfe.“

Das Gespräch wurde jäh von einem heftigen Hustenanfall des Kranken unterbrochen. Unwillkürlich wandten sich alle Personen im Raum dem Kranken zu, der in einem hohen, aus schwerem Eichenholz gezimmerten Bett lag, inmitten dicker Daunendecken und weicher Kissen. Rowena trat an die Bettstatt heran, die mit ihrer harten Liege zu Hause nicht zu vergleichen war. Hier gab es keine Strohmatten und kratzende Wolldecken, hier bettete man sich auf seidenen Kissen und fein gesponnenen Laken zur Ruhe. Nichtsdestotrotz waren die feinen Laken durchgeschwitzt und auch die Kissen feucht vom Schweiß des Kranken. „Ich grüße Euch. Mein Name ist Rowena. Ich bin Heilerin, und man hat mich gerufen, Euch zu helfen, Herr Leonardus Kreutzer“, stellte sie sich dem Patienten vor. „Würdet Ihr mir bitte mitteilen, wie Ihr Euch fühlt, und seit wann dies der Fall ist?“ „Ja“, murmelte der Kranke mit matter Stimme. „Es kam ganz plötzlich vor wenigen Stunden über mich. Nach dem Abendmahl befielen mich stechende Kopfschmerzen, zudem verspürte ich Schmerzen und Erschwernis beim Atmen. Schon kurze Zeit später kam der Husten, und mein Kopf wurde heiß. Ich kann kaum die Augen offen halten, und doch flieht mich der Schlaf.“

„Seid ohne Sorge, Herr. Ich bin mir sicher, Eure Beschwerden lindern zu können.“ Rowena kramte die Arzneien aus ihrem Lederbeutel hervor. „Hier habe ich einen Heiltrank gegen Euren Husten. Auch Eure Schmerzen werde ich besänftigen können, so wie ich auch das Fieber senken kann. Sobald Eure Qualen nachlassen, werdet Ihr auch wieder Schlaf finden.“ Routiniert maß Rowena bereits die notwendige Dosierung des Hustentrankes ab und rührte ihn in heißes Wasser, das Sabina in der Zwischenzeit herbei gebracht hatte. Dazu gab sie das fiebersenkende Mittel. Schließlich zerrieb sie eine der schmerzlindernden Alraunpastillen und süßte die Mixtur mit ein wenig Honig, um den bitteren Geschmack zu vertreiben. Dann griff sie Leonardus unter die Arme. „Setzt Euch ein wenig auf, dann fällt Euch das Trinken und auch das Atmen leichter.“

Der Kranke gehorchte und nahm den Becher mit dem Heiltrank aus Rowenas Händen entgegen. Mit tiefen Zügen leerte er den Becher und unterdrückte ein leichtes Schaudern. „Ich habe Euch Heilung versprochen, keinen Genuss“, lächelte Rowena. „Gut habt Ihr das gemacht. Nun legt Euch wieder hin. Ich werde Eure Stirn kühlen und Euch auch einen kalten Wickel um die Beine legen. Das wird die Hitze vertreiben helfen. Anschließend werden wir die Kerzen löschen, und ich werde bei Euch bleiben, bis Ihr Schlaf gefunden habt. Sollte es Euch an etwas fehlen, zögert nicht, mich darum zu bitten. Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.“Leonardus hatte sich wieder zurück in die Kissen sinken lassen. Sein Atem hatte sich bereits etwas entspannt, und er schloss erschöpft die Augen. „Seid bedankt“, sagte er und blickte Rowena noch einmal an. „Noch gibt es keinen Grund, dankbar zu sein“, wehrte Rowena ab.

„Nun versucht, etwas Ruhe zu finden. Ich werde die Nacht an Eurer Seite verbringen. Morgen sehen wir dann weiter. “Weihbischof Binsfeldius hatte mit Argusaugen beobachtet, was Rowena tat und sagte. Als er nun sah, dass sein Freund und Vertrauter langsam zur Ruhe kam und die Hustenkrämpfe seltener wurden, schien er zu dem Schluss zu kommen, dass man ihn mit der Heilerin alleine lassen konnte. „Du hast deine Aufgabe bisher gut gemacht“, gab er zu. „Halte Wache über meinen Freund und sorge für ihn heute Nacht. Wenn er gesund wird, sollst du reich belohnt werden.“