Daniela Ewen - Autorin - Schreibservice "Wortspiel"

Romane - Kurzgeschichten - Hörbücher - Lektorat/Korrektorat - Ghostwriting und mehr

Es waren einmal... 10 Gebote

5. Gebot: Du sollst nicht töten

Weinend trug Simone ihren geliebten Mischling Rocky auf ihren Armen aus der Tierarztpraxis. Die Ärztin hatte dem kleinen, braungelockten Hund mit den ehemals so wachen und treuen Augen nicht mehr helfen können. Rocky war an einem Giftköder gestorben, den der kleine Hund beim täglichen Spaziergang am Fluss entlang gefunden und schnell aufgefressen hatte, bevor Frauchen ihn wieder wegnehmen konnte. Das Hackfleischbällchen war mit Rattengift versetzt gewesen.  

Wie entsetzt war Simone gewesen, als ihr treuer Freund nach dem Spaziergang zu Hause plötzlich zusammensackte, winselte, hechelte und sich qualvoll erbrach. Minuten später lag er teilnahmslos auf der Seite und reagierte kaum auf Simones Ansprache.  

So schnell es nur ging, hatte die junge Frau ihren Hund ins Auto gepackt und war zu ihrer Tierärztin gerast, doch zu spät. Das Gift hatte sich schon zu weit im Körper des Hundes verteilt und tat seine grausame Arbeit. Der Ärztin blieb nur noch, das kleine Tier von seinen Qualen zu erlösen.  

Die Tränen strömten unaufhaltsam über Simones Gesicht, als sie das Grab für ihren Liebling aushob und Rocky, in seine Lieblingsdecke gehüllt, sanft hineinlegte. Er war erst zwei Jahre alt gewesen und hatte sein Hundeleben noch vor sich gehabt. Sein ganzes Wesen war so freundlich und liebevoll, niemals hatte er auch nur jemanden angeknurrt. Warum hatte er sterben müssen, der liebste Hund auf dieser Welt? Welcher kranke Mensch tat so etwas?  

Am anderen Ende des Dorfes stand Herbert in seiner Küche und warf gerade das Einwickelpapier des Hackfleisches in die Mülltonne, das er frisch vom Metzger geholt hatte. Der alte Mann hatte seine kleine Enkelin zu Besuch. Zwei Wochen lang sollte Emma bei ihm bleiben. Sie hatte Sommerferien, die ersten ihres siebenjährigen Lebens, und sie hatte sich schon sehr auf die Tage mit ihrem Opa zusammen gefreut. Das kleine blonde Mädchen war Hermanns ganzer Stolz. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren kümmerte er sich liebevoll um die Kleine, und die beiden waren ein Herz und eine Seele.  

Sorgfältig briet er die Frikadellen für das Mittagessen an. Doch er hatte nicht das ganze Fleisch aufgebraucht. Einen Rest hatte er noch übrig gelassen. Mit diesem hatte er noch etwas vor.  

Nachdenklich strich sich der Mann mit den Fingern über die Wangen. Obwohl es schon beinahe siebzig Jahre her war, konnte er die Narben noch ganz deutlich fühlen, die ihm damals der große, böse Schäferhund ins Gesicht gebissen hatte.

Der kleine Junge von damals stand ihm wieder klar vor Augen, und er fühlte zum wohl tausendsten Mal die Angst und den Schmerz von damals, die Hilflosigkeit, diesem Monster so ausgeliefert zu sein. Die Todesangst, die er mit seinen fünf Jahren empfunden hatte, war plötzlich wieder da, so deutlich wie damals.  

Im Zimmer nebenan hörte Herbert die kleine Emma unbekümmert und fröhlich vor sich hin singen. Nein, ihr würde niemals etwas geschehen. Er würde sie vor allem beschützen!  

Diesmal hatte er sich etwas Neues ausgedacht. Die spitzen Klingen eines Teppichmessers lagen vor ihm auf dem Küchentisch. Darauf bedacht, sich nicht in die Finger zu schneiden, nahm er eine Klinge nach der anderen in die Hand und wickelte sorgfältig das Fleisch darum. Die kleinen Bällchen würde er heute Mittag verteilen, wenn er mit Emma in den Park zum spielen ging. Besonders im Park trieben sich immer viele Hunde herum. Bald würde seine Emma sicher sein, das hatte sich Herbert geschworen.  

An der Tür klingelte der Postbote, und Herbert öffnete. Ein Einschreibebrief. Unterschreiben musste er, und der Stift des Postboten hatte den Geist aufgegeben. Der alte Mann musste eine Weile suchen, bevor er einen Stift gefunden hatte, der schrieb.  

Als er Minuten später in die Küche kam, stand Emma am Küchentisch und schaute ertappt. Sie leckte sich gerade etwas Hackfleisch von den kleinen Fingern. Herbert zählte die Bällchen nach, die auf dem Tisch gelegen hatten. Es waren keine acht mehr. Es waren nur noch fünf.  

Das Blut wich aus dem Gesicht des alten Mannes, als er eins und eins zusammen zählte. Ohne ein Wort nahm er das Mädchen an der Hand und brachte sie ins Auto. Einen kleinen Ausflug würden sie machen vor dem Mittagessen, erklärte er Emma mit zitternder Stimme. Sein altes, schwaches Herz schlug ihm bis zum Hals. Wer hatte denn mit so etwas rechnen können? Mit der Neugier und der Naschhaftigkeit eines kleinen Mädchens?  

Schon im Auto begann Emma plötzlich über Bauchschmerzen zu klagen und wimmerte leise vor sich hin. Tränen liefen dem alten Mann über das Gesicht, während er das Auto durch den Verkehr lenkte, zum drei Kilometer entfernten Krankenhaus.  

Nach endlosen zwanzig Minuten waren sie angekommen. Herbert nahm Emma auf die Arme und eilte, so schnell ihn seine alten Beine tragen wollten, in die Notaufnahme. Dort erklärte er der diensthabenden Schwester die Situation. Keine fünf Minuten später war Emma bereits im OP und wurde notoperiert. 

Die folgenden Stunden waren die Hölle für Herbert. Er saß auf dem Gang vor dem OP und wusste nicht mehr ein noch aus. Er versuchte zu beten, doch er konnte seine Gedanken nicht ordnen. Angstschweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht, nervös knetete er die eiskalten Finger. Was hatte er nur getan? Wenn das kleine Kind nun sterben würde? Es wäre seine Schuld, alleine seine Schuld. Dabei hatte er es doch nur gut gemeint, er wollte sie doch nur vor allem Bösen beschützen, das kleine Mädchen vor all dem bewahren, was ihn seit Jahrzehnten noch immer in seinen Albträumen verfolgte.  

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Chirurg aus dem Operationssaal und ging zu Herbert. Er reichte ihm die Hand und setzte sich neben ihn. Es war knapp gewesen für Emma, erklärte er dem zitternden Mann. Die Klingen hatten die Magenwände bereits verletzt und innere Blutungen verursacht. Doch sie hatten die Blutungen stillen können und die Klingen restlos entfernt. Das kleine Mädchen würde noch einige Tage zur Beobachtung in der Klinik bleiben müssen, aber danach konnte Herbert sie wieder unbesorgt mit nach Hause nehmen.  

Der Stein der Erleichterung, der Herbert vom Herzen fiel, war gewaltig, und er wischte sich ein letztes Mal mit bebenden Fingern den Angstschweiß von der Stirn. Es würde wieder alles gut werden. Er hatte unglaubliches Glück gehabt. Niemals hätte er es sich vergeben können, wenn Emma zu Schaden oder gar zu Tode gekommen wäre!  

Als Herbert seine Enkelin einige Tage später aus der Klinik wieder mit zu sich nach Hause nahm, hatte er eine ganz besondere Überraschung für die Kleine. Er öffnete die Haustür, und ehe Emma sich versah, lief ihr ein drolliger kleiner weißer Hund entgegen, kaum größer als ihr Teddybär, den sie noch im Arm hielt.  

Herbert hatte beschlossen, etwas Zutrauen zu fassen. Nicht alle Menschen waren böse, also konnten auch nicht alle Hunde böse sein.  

Die strahlenden Augen seiner Enkelin, die das kleine Tier lachend in die Arme schloss, und der kleine Hund, der dem Mädchen zutraulich mit der Zunge über die Wange fuhr, gaben ihm Recht.